Flucht

Helmut Gleuel (Foto von 1965)


Vor 50 Jahren flüchtete ein Soldat der Grenzkompanie Stapelburg in den Westen

Eckertal. In den Abendstunden eines nebligen Herbsttages Ende der 60er Jahre flüchtete ein Soldat der DDR-Grenzkompanie Stapelburg in ziviler Kleidung unbehelligt über die deutsch-deutsche Grenze nach Bad Harzburg-Eckertal.
Der junge Grenzsoldat war mit einem Mädchen aus Stapelburg verlobt, das mit ihren Eltern im 500 Meter breiten Schutzstreifen wohnte. Er hatte die Genehmigung, seine Verlobte regelmäßig zu besuchen.
Es gelang dem Grenzsoldaten, die Wachdiensteinteilung seiner Kameraden zu erfahren. Er wusste also, dass zum Beispiel der unweit der stillgelegten Bahnlinie stehende Beobachtungsturm, damals noch in Holzkonstruktion, nicht besetzt ist. Als Fluchtweg, der nur wenige hundert Meter lang war, wählte er diesen ihm bekannten und unverminten Abschnitt der deutsch-deutschen Grenze. In seiner Grenzkompanie verabschiedete er sich mit den Worten: „Ich besuche meine Verlobte in der Muna-Siedlung“. Der Weg führte aber nicht zu seiner Verlobten, sondern unter Ausnutzung der Dunkelheit und des nebligen Wetters in Richtung Bahnlinie. Nur mit einem Marschkompass ausgestattet, schlich er zur „Staatsgrenze West“, überwand dabei problemlos alle Grenzsperranlagen bis auf den circa drei Meter hohen Metallgitterzaun. Schweißtreibend kratzte er mit seinen Händen lautlos das Erdreich unter dem Zaun soweit weg, dass er unterdurchkriechen konnte. Bei der zeitraubenden Buddelaktion bekam der Grenzsoldat fürchterliche Angst von einer Fußstreife entdeckt oder von Hunden der Hundelaufanlage bemerkt zu werden. Anschließend durchquerte der Soldat den Grenzfluss Ecker. Damit war seine mehrstündige und lebensgefährliche Flucht in den Westen geglückt!
Auf der Blankenburger Straße in Eckertal kam meinem Kollegen und mir, wir führten eine Grenzdienststreife durch, ein Mann entgegen, der uns unaufgefordert und ängstlich darüber informierte, dass er als Soldat der DDR-Grenztruppen soeben von Stapelburg in die BRD geflüchtet sei.
Wir gingen mit dem „Republikflüchtigen“ zur Grenzaufsichtsstelle Eckertal, stellten u.a. seine Personalien fest, ließen uns seine Flucht schildern und übergaben den glücklichen jungen Mann, der unverletzt aber völlig erschöpft war, der Bundesgrenzschutzabteilung Goslar.

Der Grenzsoldat, der Verwandte in NRW hat, bedankte sich für die freundliche und herzliche Aufnahme und schenkte mir seinen mitgeführten Marschkompass F 58 der DDR-Grenztruppen, den ich in Ehren halte.
Anschließend setzten wir unsere Streife fort und sahen, dass die Grenzkompanie Stapelburg inzwischen eine Suchaktion ausgelöst hat. Der Grenzabschnitt zwischen Stapelburg und Eckertal war hell erleuchtet und die Grenzsperranlagen mit einem Scheinwerfer abgeleuchtet.
Gern hätte ich gewusst, wo der geflüchtete Grenzsoldat heute lebt und was er nach seiner Flucht beruflich gemacht hat.

Der Bundesgrenzschutz und das Zollkommissariat Bad Harzburg wurden inzwischen aufgelöst und die dokumentierten Vorfälle an der innerdeutschen Grenze vernichtet.

Helmut Gleuel
Ehemaliger Zollbeamter
des Zollkommissariats Bad Harzburg

 

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